Wirkung nach 6 Jahren in Anna Nagar
Projektstart: Schule im Bus
Im Jahr 2018 haben wir in Zusammenarbeit mit ADRA Indien das Projekt „Schule im Bus“ in den Außenbezirken von Chennai gestartet. Anna Nagar ist eines von drei Dörfern im Projekt. Hier leben die Menschen der untersten Kaste, die „Unberührbaren“. Unser Ziel war es damals, dass alle Kinder zur Schule gehen und als Minimum die Pflichtschuljahre absolvieren.
Herausforderungen zu Beginn
Einige Kinder hatten Angst, zur Schule zu gehen, entweder wegen Gefahren auf dem Schulweg, Mobbing durch Klassenkameraden oder weil ihre Eltern auf ihre Mithilfe in der Feldarbeit angewiesen waren. Als unsere lokalen Mitarbeiter in die Dörfer kamen, um mit den Familien zu sprechen, versteckten sich viele in ihren Hütten. Jede Familie kämpfte allein ums Überleben, besonders während der Monsunzeit, wenn die Dörfer durch sintflutartige Regenfälle unter Wasser standen.
Engagement unserer Mitarbeiter
Unsere Mitarbeiter haben nicht nur Dienst nach Vorschrift gemacht, sondern sich dem Schicksal der Menschen persönlich angenommen. Die Frauen im Dorf waren ihren Männern untertan und völlig abhängig, ebenso die Kinder. Arbeit für Tagelöhner gab es vor allem in Backsteinbrennereien oder auf Jasminfeldern. Die Menschen wurden ausgenützt und nur sehr schlecht bezahlt, so dass bei jeder unvorhergesehenen Krise wieder ein Kredit bei ihren Großgrundbesitzern oder Kredithaien dazu kam. Das hat die Menschen immer tiefer in die Armut hineingezogen.
Einführung einer neuen Arbeitsmethode
Wir führten eine neue Arbeitsmethode ein und schulten unsere Mitarbeiter entsprechend. Ziel war es, die Dorfbewohner mit relevanten Informationen zu versorgen, damit sie selbst bessere Entscheidungen treffen konnten. Auch sollten unsere Mitarbeiter vor allem die Kinder und die Mütter bei der Umsetzung wo nötig unterstützen, aber nicht selbst aktiv werden, d.h. ihnen die wichtigen Lernschritte nicht abnehmen. Dieser Ansatz war für viele unserer Mitarbeiter ungewohnt, und es fiel ihnen zunächst schwer, diesen Veränderungsprozess zu begleiten.
Bildung als Schlüssel zur Veränderung
Unsere erste Priorität war es, alle Kinder in die Schule zu bringen – dann kam COVID. Während der Pandemie unterrichteten die Lehrer über Megaphone in den Dörfern, während die Kinder vor ihren Hütten saßen und zuhörten. Diese kreative Lösung beeindruckte uns sehr und half den Eltern zu erkennen, wie wichtig Bildung ist.
Nach der Pandemie begannen die Familien, Küchengärten anzulegen. Heute hat fast jede Hütte einen kleinen Garten, was die Frauen besonders dankbar macht. Dadurch müssen sie nicht mehr weit laufen, um Gemüse zu kaufen – oder sie verkaufen einen Teil ihrer Ernte.
Selbstorganisation und Aufbruchsstimmung
In jedem Dorf gründeten sich Frauengruppen, um die Anliegen des Dorfes gegenüber den lokalen Behörden zu vertreten. Schritt für Schritt verbessert sich seither die öffentliche Infrastruktur.
Nach sechs Jahren hat sich vieles verändert. Die meisten Familien haben mittlerweile Zugang zu staatlichen Förderungen und nutzen diese auch. Menschen mit speziellen Bedürfnissen erhalten ihre Invalidenrente und erweitern ihr Einkommen durch Handarbeit. Ein Mann aus dem Dorf flechtet Handtaschen, die bei den Jasmin-Pflückern auf dem Feld sehr beliebt sind. Eine ältere Frau strickt Türvorleger aus altem Sari-Stoff und verkauft sie erfolgreich. Die Menschen werden kreativ und eigeninitiativ. Wir sind erstaunt, wie schnell sie bessere Entscheidungen treffen, wenn sie die nötigen Informationen zur richtigen Zeit erhalten.
Bildungserfolge und Infrastrukturverbesserungen
Die meisten Kinder gehen heute regelmäßig zur Schule. Unser Projekt unterstützte einen Schulbus – mittlerweile hat der Staat eine öffentliche Buslinie eingerichtet, die den sicheren Schulweg gewährleistet.
Bei meinem letzten Besuch im Januar 2025 sprach ich mit einem Mädchen, das als Erste aus Anna Nagar eine Universität besucht. Auch zwei Jungen erzählten mir von ihrer Ausbildung zum Motorradmechaniker, die sie kürzlich absolviert haben.
Wenn ich wie letzte Woche einmal im Jahr zu Besuch komme, läuft das halbe Dorf zusammen, um uns mit farbigen Ornamenten und Blütenblättern zu empfangen. Die Kinder führen uns Volkstänze vor und dann sitzen wir im Kreis am Boden und sie erzählen mir, was sie alles zum Teil schon alleine oder mit der Hilfe der Projektmitarbeiter erreicht haben. Ich merke, wie ihr Selbstbewusstsein jedes Jahr weitergewachsen ist und sie immer besser wissen, was sie benötigen und wie sie es erreichen können. Ihre Augen leuchten und das Gespräch ist sehr entspannt. Die Frauen werden auch von ihren Männern unterstützt und sie dürfen alleine das Dorf verlassen. Sie dürfen mitentscheiden und haben mittlerweile ihr eigenes Einkommen. Die Frauengruppe, die nun für das Dorf spricht, hat sich Uniformen genäht, um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und noch besser als Einheit für das gemeinsame Interesse einzutreten. Was mir bei meinen jährlichen Besuchen immer wieder positiv auffällt: Es sind noch immer die gleichen Frauen in der Gruppe und sie wachsen gemeinsam, für mich ein sehr wichtiger Indikator.
Zusammenarbeit mit Behörden
Seit drei Jahren nehmen regelmäßig Funktionäre der lokalen Behörde an unseren Treffen teil, um mit der Frauengruppe und den Lehrern die nächsten Schritte zu besprechen – ein Zeichen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Beim Rundgang durch das Dorf fällt auf: Die Straßen sind befestigt, fast überall gibt es Entwässerungskanäle, sodass die Häuser nicht mehr im Wasser versinken. Das hat der Staat finanziert und die Frauen haben erfolgreich selbst dafür gekämpft. Dadurch haben sie sich bereits ein gutes Gefühl für den Wert von Geld und Ressourcen wie Zeit, ihre eigene Gesundheit und den Schutz der Umwelt angeeignet.
Zukunftspläne und nachhaltige Entwicklungen
Nach dem Monsun ist die beste Zeit, um neue Kleinunternehmen zu gründen. Besonders die Frauen organisieren sich, um Hühner, Ziegen oder Kühe zu züchten und weitere Einkommensmöglichkeiten zu erschließen. Wir werden sie dabei unterstützen, Businesspläne zu erstellen und ihnen Starter-Sets zur Verfügung stellen.
Mittlerweile wurde das Projekt auf neun Dorfgemeinschaften ausgeweitet. Die Dörfer lernen voneinander und unterstützen sich gegenseitig. Die ehemalige „Schule im Bus“ wird nicht mehr als Klassenzimmer gebraucht, dient aber weiterhin als Transportmittel. Die Kinder sind heute in die regulären Schulen integriert und werden von engagierten Lehrern auf ihrem Bildungsweg begleitet.
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